OLG München, Beschluss vom 27.12.2024, 33 Wx 88/24
Verfahrensgang AG Rosenheim-VI 2796/19, OLG München33 Wx 88/24
1.
Ausgangslage:
a)
Wir haben unseren Mandanten nach mehrjähriger erbrechtlicher Rechtsstreitigkeit erfolgreich nach Anfechtung eines notariellen Testaments nach Enterbung im Rahmen eines eingeleiteten Erbscheinverfahrens vor dem Nachlassgericht Rosenheim bis zum OLG München vertreten.
Unser Mandant war auf Grundlage eines notariellen Testaments enterbt und auf den Pflichtteil gesetzt. Laut notariellem Testament wurde sein Bruder zum Alleinerben bestimmt.
Nach Vorliegen mehrerer gewichtiger Anhaltspunkte dafür, dass der Erblasser zum Zeitpunkt der Errichtung des notariellen Testaments bereits testierunfähig war, haben wir für unseren Mandanten das Erbscheinverfahren vor dem Nachlassgericht Rosenheim eingeleitet und als gesetzlichen Erben neben seinem Bruder einen Teilerbschein zu ½ beantragt. Unsererseits wurde das Testament mit der Begründung angefochten, da der Erblasser zum Zeitpunkt der Errichtung des notariellen Testaments nicht mehr testierfähig war.
Der zum Alleinerben eingesetzte Bruder war der Meinung, dass der Erblasser durchaus in der Lage war, alles richtig zu erfassen und entsprechende Antworten und Reaktionen von sich geben konnte.
Da unsererseits im Zuge der Anfechtung des Testaments dem Nachlassgericht gewichtige Anknüpfungstatsachen dafür geliefert werden konnten, dass der Erblasser bereits testierunfähig war, holte das Nachlassgericht ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zur Testierfähigkeit des Erblassers ein.
b)
In seinem Gutachten kam der Gutachter zu dem Ergebnis, dass sich kein vernünftiger Zweifel daran begründen lasse, dass der Erblasser zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung die Fähigkeit verloren hatte, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Es sei daher von Testierunfähigkeit auszugehen.
Dieses Ergebnis begründet der Sachverständige nach psychiatrischer Gesamtwürdigung der über den Erblasser vorliegenden medizinischen Befunde und weiteren Mitteilungen.
Auch die Mitarbeiterinnen des Pflegeheims schilderten, dass der Erblasser geistig wie körperlich nicht mehr in der Lage gewesen sei, Handlungen selbst und mit klarem Verstand durchzuführen.
Der das Testament aufnehmende Notar hatte hingegen in seiner Stellungnahme angegeben, dass ihm Abweichungen zum Regelfall der anzunehmenden Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit nicht in Erinnerung seien.
Entscheidung des Nachlassgerichts Rosenheim und Begründung:
Das Nachlassgericht Rosenheim hat den für unseren Mandanten beantragten Erbschein zu 1/2 zunächst erteilt. Das Nachlassgericht hat mit Beschluss vom 30.01.2024 die zur Begründung unseres Antrags auf Erteilung eines unseren Mandanten als Miterben zu 1/2 ausweisenden Erbscheins erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet.
2.
Der Bruder unseres Mandanten als der ursprünglich testamentarisch eingesetzte Alleinerbe hatte Beschwerde mit Schreiben vom 19.02.2024 eingelegt.
Das Nachlassgericht Rosenheim hat der Beschwerde mit Beschluss vom 20.03.2024 nicht abgeholfen und die Akten dem OLG München als Beschwerdesenat zur Entscheidung vorgelegt. In seiner Nichtabhilfeentscheidung hat das Nachlassgericht begründet, dass es die Einvernahme weiterer Zeugen nicht für geboten erachte, da keine weiteren Erkenntnisse zu erwarten seien.
3.
Das OLG München teilte nun unsere Rechtsauffassung, dass der Erblasser bei Errichtung der letztwilligen Verfügung vom 28.03.2019 testierunfähig war und daher die gesetzliche Erbfolge greift.
Unserem Mandanten wird nun der Erbschein zu ½ rechtskräftig erteilt.
Zu den Gründen des OLG München:
1.
Nach der Konzeption des § 2229 BGB, wonach die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet, gilt jedermann, der das 16. Lebensjahr (§ 2229 Abs. 1 BGB) vollendet hat, solange als testierfähig, bis das Gegenteil zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen ist (vgl. Lauck in Burandt/Rojahn Erbrecht, 4. Auflage 2022, § 2229 BGB Rn. 22 m. w. N.). Für diesen Beweis genügt, da eine absolute Gewissheit nicht zu erreichen und jede Möglichkeit des Gegenteils nicht auszuschließen ist, ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit (BGH, Urteil vom 14.01.1993, IX ZR 238/91, NJW 1993, 935), der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 16.04.2013, VI ZR 44/12, NJW 2014, 71; Thomas/Putzo, ZPO, 45. Auflage 2024, § 286 Rn. 2). Diese für § 286 ZPO entwickelten Grundsätze gelten grundsätzlich auch im Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz (BGH, Urteil vom 12.01.1994, XII ZR 155/92, NJW 1994, 1348).
Nach § 2229 Abs. 4 BGB kann ein Testament nicht errichten, wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Testierunfähig ist derjenige, dessen Erwägungen und Willensentschlüsse nicht mehr auf einer dem allgemeinen Verkehrsverständnis entsprechenden Würdigung der Außendinge und der Lebensverhältnisse beruhen, sondern durch krankhaftes Empfinden oder krankhafte Vorstellungen und Gedanken derart beeinflusst werden, dass sie tatsächlich nicht mehr frei sind, sondern vielmehr von diesen krankhaften Einwirkungen beherrscht werden. Diese Unfreiheit der Erwägungen und der Willensbildungen braucht nicht darin zu Tage zu treten, dass der Erblasser sich keine Vorstellung von der Tatsache der Errichtung eines Testaments und von dessen Inhalt oder von der Tragweite seiner letzten Anordnungen, insbesondere von der Auswirkung auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen zu machen vermag. Sie kann sich vielmehr darauf beschränken, die Motive für die Errichtung einer letztwilligen Verfügung entscheidend zu beeinflussen.
Testierunfähig ist daher auch derjenige, der nicht in der Lage ist, sich über die für und gegen die letztwillige Verfügung sprechenden Gründe ein klares, von krankhaften Einflüssen nicht gestörtes Urteil zu bilden und nach diesem Urteil frei von Einflüssen etwaiger interessierter Dritter zu handeln (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 29.01.1958 IV ZR 251/57, FamRZ 58, 127; BayObLG, Beschluss vom 17.08.2004, 1 Z BR 53/04, BayObLGZ 2004, 237; OLG München, 31 Wx 16/07, FamRZ 2007, 2009 ff.; OLG Bamberg, 4 W 16/14, FamRZ 2016, 83). Dabei geht es nicht darum, den Inhalt letztwilliger Verfügungen auf seine Angemessenheit zu beurteilen, sondern nur darum, ob sie frei von krankheitsbedingten Störungen verfasst werden konnten (BayObLG, Beschluss vom 21.07.1999, 1Z BR 122/98, BayObLGZ 1999, 205 ff.).
Nachdem die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet, ist ein Erblasser bis zum Beweis des Gegenteils als testierfähig anzusehen. Allein maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Testierfähigkeit ist jener der Errichtung des Testaments.
2.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hatte auch der Senat keine Zweifel, dass der Erblasser bei Errichtung des notariellen Testaments vom 28.03.2019 testierunfähig war.
Diese Einschätzung stützt sich insbesondere auf die Befunderhebungen des den Erblasser betreuenden Allgemeinarztes, die vom Seniorenheim zur Verfügung gestellte Pflegedokumentation, die vom Nachlassgericht erholten Stellungnahmen, die Krankenakte der Klinik sowie die Ausführungen des vom Nachlassgericht beauftragten Sachverständigen in seinem Gutachten vom 17.07.2020, seinen Ergänzungsgutachten vom 31.08.2021 und 28.01.2022 sowie seiner Anhörung und mündlichen Stellungnahme vom 19.05.2022.
In seinen Gutachten hat der Sachverständige nachvollziehbar und plausibel unter Würdigung der für die Frage der Testierfähigkeit maßgeblichen Anknüpfungstatsachen dargelegt, dass bei dem Erblasser zum fraglichen Zeitpunkt eine gemischt kornkate und subkortikale vaskuläre Demenz und eine depressive Anpassungsstörung bzw. reaktive Depression bestand und er infolge dieser Erkrankung nicht mehr in der Lage war, seinen Willen nach den vorgenannten Grundsätzen frei zu bilden und kundzutun.
Der Senat schloss sich diesem Gutachten nach eigener Überprüfung vollumfänglich an. Auszugsweise führt das OLG München weiter aus:
…
Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Nachlassgericht hätte auch den Zeugen F. anhören müssen, trifft dies nicht zu. Das Nachlassgericht ist gemäß § 26 FamFG verpflichtet, die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen, wobei es nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet, jedoch ist es nicht verpflichtet, allen nur erdenklichen Ermittlungsmöglichkeiten nachzugehen (vgl. Sternal, FamFG, 21. Auflage 2023, § 26 Rn 17, 18).
Die Anhörung des Zeugen F. war schon deshalb entbehrlich, weil dieser den Erblasser nur bei einer einzigen Gelegenheit gesehen hat und seinen Beobachtungen mangels fachlicher medizinischer Qualifikation kein besonderer Beweiswert zukommt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei Vorliegen von Anknüpfungstatsachen in Form von Behandlungsunterlagen, Testungen und Explorationsschilderungen von medizinisch qualifizierten Personen den Beobachtungen von medizinischen Laien betreffend das Verhalten des Erblassers kein maßgebendes Gewicht für die Beurteilung der Testierfähigkeit zukommt (vgl. OLG München, 31 Wx 239/13, BeckRS 2014, 20882). Es war daher nicht ersichtlich, welche beurteilungsrelevanten Erkenntnisse seine Anhörung hätte erbringen können.
…
Der Sachverständige hat – wie erforderlich – im Rahmen seiner Begutachtung die von der Rechtsprechung entwickelte zweistufige Beurteilung vorgenommen und im ersten Schritt geprüft, ob eine geistige bzw. psychische Störung vorlag, wobei der von Gesetz und Rechtsprechung vorgegebene rechtliche Krankheitsbegriff zugrundezulegen war. Er hat anhand der ihm vorliegenden Unterlagen sämtliche gemäß ICD-10 F.03 für die Feststellung einer Demenz relevanten Merkmale geprüft, nämlich insbesondere Orientierung, Gedächtnisleistung, Defizite im Bereich weiterer kognitiver Funktionen, wie z.B. Konzentration, Auffassung, kognitive Verarbeitung komplexerer Zusammenhänge, Auffälligkeiten des formalen Denkens und Rechenfähigkeit. Diese Kriterien gemäß ICD-10 stellen ein anerkanntes Mittel dar, um das Vorliegen einer Demenz bestimmen zu können (vgl. OLG München, 31 Wx 239/13, BeckRS 2014, 20882; Wetterling, ErbR 2014, 94 ff., 99).
Der Sachverständige hat mit überzeugender Begründung festgestellt, dass bei dem Erblasser jedenfalls ab dem Jahr 2014 eine gemischt kortikale und subkortikale vaskuläre Demenz und eine depressive Anpassungsstörung bzw. reaktive Depression bestand, mithin eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit.
Zutreffend hat der Sachverständige sich im zweiten Schritt damit auseinandergesetzt, ob aufgrund der festgestellten Störung die freie Willensbestimmung des Erblassers ausgeschlossen war (Ebene der psychopathologischen Symptomatik bzw. der psychisch-geistigen Funktionsdefizite).
Dabei hat er richtigerweise auf die wesentlichen Merkmale der Testierfähigkeit abgestellt, nämlich die Fähigkeit des Testierenden, die für und gegen eine letztwillige Verfügung sprechenden Gründe abzuwägen und sich aus eigener Überlegung, frei von Einflüssen Dritter, aus eigener Kraft ein Urteil zu bilden, was die Fähigkeit voraussetzt, sich im Zeitpunkt der Testamentserrichtung an Sachverhalte und Ereignisse zu erinnern, Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen und Abwägungen vorzunehmen (vgl. OLG München, 31 Wx 16/07, NJW-RR 2008, 164), diese zu den jeweiligen Errichtungsstichtagen gesondert geprüft, und bzgl. des Wahns darauf abgestellt, ob dieser in einem inhaltlichen Zusammenhang mit der Thematik der letztwilligen Verfügung stand (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.08.2004, 1Z BR 53/04, BayObLGZ 2004, 237).
Der Senat teilte schließlich die Einschätzung des Sachverständigen, dass der Erblasser bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe im Zeitpunkt der Erstellung des Testaments am 28.03.2019 testierunfähig war, weil aufgrund seiner dementiellen Entwicklung zahlreiche Funktionsstörungen bestanden und er wegen dieser Einbußen die Fähigkeit verloren hatte, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Bei einer Gesamtschau dieser Umstände war der Senat davon überzeugt, dass der Erblasser Erwägungen über das hinaus, was ihm vorgegeben wurde, nicht mehr erfassen und autonom in seine Entscheidung einfließen lassen konnte und er damit nicht mehr in der Lage war, seinen Willen frei und unbeeinflusst zu bilden.
Die Stellungnahmen des beauftragte Parteigutachters der Beschwerdeführers erschütterten entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers die Bewertung des gerichtlichen Sachverständigen nicht, da sie den für gerichtliche Gutachten geltenden Anforderung einer sorgfältigen Untersuchung unter Einbeziehung der Vorgeschichte und aller äußerer Umstände (vgl. OLG Frankfurt, 20W 264/95, NJW-RR 1998, 870) nicht genügen.
Der gerichtlich bestellte Sachverständige konnte in den Ergänzungsgutachten und seiner mündlichen Anhörung zudem alle Kritikpunkte des Parteigutachters entkräften, insbesondere hat er nachvollziehbar dargestellt, dass der Erblasser zum Errichtungszeitpunkt des Testaments aufgrund seiner zu diesem Zeitpunkt fortgeschrittenen Demenz keine autonomen Entscheidungen mehr treffen und keine eigenen Erwägungen über das hinaus, was ihm vorgegeben wurde, in seine Abwägung einfließen lassen konnte.
Fazit:
Nach fast 5 Jahren konnten wir unserem Mandanten erfolgreich zu seinem Erbrecht verhelfen. Gerne helfen wir auch Ihnen bei Durchsetzung erbrechtlicher oder pflichtteilsrechtlicher Ansprüche weiter.